Bei meinem Arbeitgeber, einer Krankenversicherung, ist das klassische Wasserfall-Modell für Projekte heute noch die Regel. Die meisten Projekte werden umgesetzt, ohne die internen Stakeholder (im Folgenden «Nutzer») einzubeziehen, was die Mitarbeiterzufriedenheit beeinträchtigt. Eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe («Team») versucht mit Workshops und anderen Massnahmen für Projektleiter und deren Kernteams («Klienten»), die Nutzerorientierung zu fördern. Als Mitglied dieses Teams moderiere ich solche Workshops. Die Frage war nun, wie das Team im Rahmen der bestehenden Workshop-Reihe rasch und nur mit Bordmitteln die Nutzerorientierung fördern kann.
Meine Hypothese: Die Klienten müssen sich zuerst ihrer eigenen Annahmen bewusst werden, um Empathie für die Nutzer aufbauen und deren Ideen annehmen zu können. So entstand die Methode Micro MOVEs: Dabei dokumentieren die Klienten zuerst ihre eigenen Annahmen über ihre Nutzer mit dem Template MOVE Canvas und erstellen so den «Steckbrief». Nach einer Nutzerbefragung konsolidieren die Klienten die Interview-Ergebnisse in einem zweiten MOVE Canvas (die «Schatztruhe»). Steckbrief und Schatztruhe werden miteinander verglichen, um zu ermitteln welche Nutzeraussagen vorherige eigene Annahmen bestärkt oder widerlegt haben. Die Ergebnisse aus der Kontrastierung werden dann nach den drei Bereichen «Probleme der Nutzer», «Bedürfnisse der Nutzer» und «Hinweise zur Involvierung der Nutzer» geclustert.
Micro MOVEs führte zu Aha-Erlebnissen bei den Klienten (Bewusstwerden der eigenen Annahmen), löste Blockaden (bei Klienten und Nutzern) und ermöglichte es den Klienten, die Nutzer-Ideen aufzugreifen.
Wie können wir die Projektleiter und ihre Kernteams bei uns in der Krankenkasse darin unterstützen, nutzerorientierte Involvierungsmassnahmen für «Personengruppe X» zu definieren?
Das Team besteht aus drei Führungskräften aus verschiedenen Marktregionen sowie je einem Vertreter aus Product-Management, Applikationsentwicklung und Organisationsentwicklung sowie mir als Vertreter des Bereichs Customer-Journey-Projekte. Es hatte neu die sogenannte «Key-User-Massnahme» entwickelt: ein Verfahren zur Ermittlung und zum gezielten Einbinden von Mitarbeitenden in Projekten als Tester oder Miliz-Trainer.
Das Team stand kurz vor dem Roll-out der Key-User-Massnahme, hatte bisher jedoch nie die Nutzer involviert. Daher hatten alle Team-Mitglieder ein ungutes Gefühl und meinten, die Nutzer würden die Massnahme als unnötigen Zusatzaufwand ablehnen. Das Team stand genau vor dem Problem, für das Micro MOVEs eine Lösung bieten sollte. Daher habe ich einen Micro-MOVEs-Workshop für das Team organisiert, um herauszufinden, ob die Methode ein Bewusstsein für die eigenen Annahmen schafft, den Perspektivenwechsel auslöst und das Einbeziehen von Ideen der Nutzer ermöglicht.
Am Workshop anwesend waren 5 von 7 Team-Mitgliedern. Im konkreten Anwendungsfall agierte ich nicht als Team-Mitglied, sondern als Facilitator des Workshops.
Vor dem Nutzerinterview – Steckbrief erstellen
Am Workshop ist das Team zuerst nochmals seine Stakeholder-Map durchgegangen, um gedanklich beim Workshop und dem Haupt-Stakeholder (in der Folge „Nutzer“) anzukommen. Dann stellte ich die fünf Kategorien des MOVE Canvas vor:
- STAKEHOLDER/NUTZER: Fragen zu Aufgaben, Aspirationen, Kontakten und Haltung des Nutzers gegenüber Veränderungen.
- VERÄNDERUNG: Was verändert sich durch den Roll-out für den Nutzer im Arbeitsalltag, fachlich, emotional (persönlich, sozial)?
- ZEITLICHE ASPEKTE: Wann, wie oft, mit welcher Dauer ändert sich etwas für den Nutzer?
- PROBLEME/WIDERSTÄNDE: Welche Probleme können für den Nutzer entstehen und warum könnte er etwas dagegen haben?
- CHANCE/GEWINN: Welche Chancen könnten für den Nutzer mit dem Roll-out entstehen?
Ich moderierte den Austausch über die Kategorien mit Fragen wie: Was würdet ihr hierunter verstehen? Welche weiteren Fragen könntet ihr euch für diese Kategorie vorstellen? Welche Beispiele fallen euch aus eurem Berufsalltag dazu ein? Dies mit dem Ziel, Verständlichkeit und Vollständigkeit des MOVE Canvas zu testen und gegebenenfalls anzupassen. Sobald der MOVE Canvas als solches gut verstanden war, erfasste das Team im MOVE Canvas alles auf Post-it, was ihrer Meinung nach die Nutzer antworten würden (zuerst stilles Downloading, danach im Plenum). Damit erfasste das Team seine eigenen Annahmen über die Nutzer. Der so erstellte Steckbrief wurde in der Gruppe besprochen, Verständnisfragen zu den Post-it geklärt und Doubletten gelöscht.
Nutzerinterview – Vorbereitung & Durchführung
Das Team hat sich zum Wording rund um den Use Case (Einführung Key-User-Massnahme) abgestimmt und die Fragen aus dem MOVE Canvas in den Interview-Leitfaden integriert. Ziel war, dass alle befragten Nutzer in etwa die gleiche Ausgangslage und Fragestellungen haben. Das Team wurde in Interview-Pärchen aufgeteilt und die Rollen in jedem Pärchen geklärt (Wer führt das Interview? Wer notiert und transkribiert?). Die Pärchen haben dann je 2 Interviews geführt und direkt im Anschluss die Interview-Ergebnisse transkribiert.
Nach Nutzerinterview – Schatztruhe erstellen
Das Team fühlte sich nach den Interviews freudig belebt und inspiriert. Es hat die Aussagen der Nutzer mittels Storytelling sehr lebhaft untereinander geteilt. Dann haben alle die aus ihrer Sicht wesentlichen Aussagen aus den Interviews in einem leeren MOVE Canvas konsolidiert und so die Schatztruhe erstellt. Danach wurden Steckbrief und Schatztruhe verglichen und alle überraschenden Erkenntnisse, Hinweise der Nutzer zu Problemen und Bedürfnissen sowie Bestätigungen von vorherigen Annahmen mit Post-it gesammelt. Diese wurden dann zum Abschluss des Workshops in folgende Kategorien geclustert: Probleme der Nutzer, Bedürfnisse der Nutzer, Ideen für eine Involvierung.
Ergebnis – Aha-Erlebnis
Es kam zu einem starken Aha-Erlebnis, da die Nutzer die Key-User-Massnahme viel positiver sahen, als das Team dies je zu träumen gewagt hätte. Und mehr noch: die Nutzer wünschten sich gar eine aktive Unterstützung anstatt alles als unnötigen Zusatzaufwand abzulehnen. Das Team hat auch neue Hinweise zur Implementierung erhalten (z.B. den aktiven Einbezug von Führungskräften der potenziellen Key User). Ganz offensichtlich war das Eis gebrochen und das Team schaute ab diesem Zeitpunkt mit Zuversicht und Vorfreude auf die Zusammenarbeit mit den Nutzern.
Entwicklungen im Team nach dem Workshop
Das Team ist aktiv auf fünf Nutzer zugegangen mit der Anfrage, ob sie in Pilotprojekten die Key-User-Massnahme mit der Unterstützung des Teams austesten wollten. Diese Pilotprojekte sollen im ersten Halbjahr 2021 durchgeführt werden.
Ergebnisse
- Der gewünschte «Aha-Effekt» (Bewusstwerden eigner Annahmen) ist erfolgt.
- Die strukturierte Kontrastierung mit dem MOVE Canvas vor und nach Nutzerbefragung hat den Perspektivenwechsel erwirkt, Blockaden gelöst und eine konstruktive Zusammenarbeit mit Nutzern ermöglicht.
- Das Team ist nach dem Workshop aktiv auf fünf Nutzer zugegangen mit der Anfrage, ob sie in Pilotprojekten die Key-User-Massnahme mit der Unterstützung des Teams austesten wollten. Diese Pilotprojekte sollen im ersten Halbjahr 2021 durchgeführt werden.
- Dieser kleine Erfolg spricht sich herum: Klienten bitten ausserhalb der Pilotprojekte beim Team um Informationen und Unterstützung. Die Micro MOVEs ist dabei als Teil des Unterstützungsangebots vorgesehen.
Reflexion
- Diese Methode führt zu zwei Ergebnissen: Bewusstwerdung, dass eigene Annahmen keine Fakten sind, und Ideenbasis für die Nutzerinvolvierung.
- Diese Methode eignet sich insbesondere dazu, in einem traditionellen Projekt-Umfeld mit pragmatischen Mitteln rasch ein Bewusstsein für eigene Annahmen zu schaffen und so eine verstärkte Nutzerorientierung einzuleiten.