Die Schüler*innen der Sekundarstufe werden im Bewerbungsprozess für eine Lehrstelle oft auf ihre persönlichen Stärken angesprochen. An dieser Stelle gerät das Gespräch vielfach ins Stocken. Das habe ich als Bewerbungstrainer und in Vorstellungsgesprächen mehrfach miterlebt. Aber wieso?
Über die letzten Jahre hat sich eine (bis anhin unwiderlegte) Hypothese gebildet: Der sprachliche Gebrauch und das Verständnis des Stärkenbegriffs nach Ansätzen der positiven Psychologie sind in der Arbeitswelt mittlerweile weit verbreitet. Diese Begriffswelt hat das Klassenzimmer in der Sekundarstufe aber noch nicht erreicht.
Um die Sekundarschüler*innen mit den eigenen Stärken schrittweise vertraut zu machen, veranstaltet die Lehrperson zunächst eine Stärkenkonferenz im gesamten Klassenverbund und lässt die Schüler*innen das Verständnis über einzelne Stärken selbständig abtiefen. Dabei sprechen sich diese in einem geführten Prozess gegenseitig Stärken zu - das Fremdbild wird dabei wesentlich geformt.
Wie schaffen wir es, dass die Sekundarschüler*innen ihre eigenen Stärken kennenlernen und verankern, damit sie ihre berufliche Richtung noch bewusster wählen und im Bewerbungsprozess selbstsicher über ihre Stärken sprechen?
Die Erfahrung aus Bewerbungstrainings und echten Bewerbungsgesprächen zeigt, dass viele Schüler ihre Stärken nur zögerlich nennen oder diese gar nicht richtig kennen.
Die weitere Recherche mit Lehrerkräften zeigt zudem, dass die Lehrmittel im Fach Berufswahlkunde den Fokus auf Talente und Interessen setzt und das Thema Stärken eher oberflächlich abhandelt.
Setting
Im Singsaal einer Sekundarschule 5 Tische eingerichtet mit Papier, grossen Notizzetteln und farbigen Stiften. Pro Tisch stehen 4-5 Stühle für insgesamt 22 Schüle*innen zur Verfügung. Drei Pinwände stehen bereit.
Begrüssung und Einführung
Sitzordnung vorgegeben. Alle Schüler begrüsst und den groben Ablauf erklärt. Die Verbindung zum Fach Berufswahlkunde gemacht und den im Vorfeld ausgefüllten Fragebogen. Ziel der Konferenz wird geklärt.
Impuls
Vorstellung der 6 Tugenden und 24 Stärken nach VIA (Onlinetest verfügbar). Die Auswertung der Fragebogen im Vorfeld zeigte, dass die Klasse in der Summe 20 der 24 VIA Stärken kennt. Es wird nur mit den 20 gearbeitet. Jeder Tisch arbeitet an einem Set von vier Stärken. Unterstützendes Material wird spezifisch pro Tisch ausgehändigt.
Runden in Kleingruppen
In der ersten von fünf Gesprächsrunden erarbeiten die Kleingruppen an jedem Tisch die Basis. Die als «Tischmoderator*in» bestimmte Person fragt für die Gruppe die einzelnen Stärken ab. Gesucht sind Mitschüler*innen in der eigenen Klasse, die die vier Stärken besitzen. Mitschüler*innen werden genannt. Der/die Tischmoderator*in fragt in der Gruppe nach Beispielen, wie sich diese Stärke äussert. Er skizziert/modelliert mit den Notizzetteln Steckbriefe (A4). Für mehrere Personen pro Stärke werden eigene Steckbriefe erstellt.
Am Ende der 20-minütigen Runde wechseln die Teilnehmer*innen an einen neuen Tisch. Eine Person bleibt an jedem Tisch als «Tisch-Gastgeber*in» für die nächste Runde, begrüßt die nächste Gruppe und informiert sie kurz über die Ereignisse der vorherigen Runde. Die nächsten 4 Runden dauern noch 15 Minuten. Am Ende von Runde 5 sammeln die Tischmoderatoren alle Steckbriefe ein und hängen diese an die Pinwände.
Ernten
Die Klasse wird vor die Pinwände gebeten. Der Prozess wird reflektiert. Überraschungen, Höhen und Tiefen sind gefragt. Der Moderator nennt nochmals das Ziel dieser Stärkenkonferenz (Fremdbild) und gibt eine Perspektive bezüglich Weiterarbeit an diesem Thema. Die Präsentation der Synthese erfolgt an einem Folgetermin. Damit schliesst diese Konferenz.
Die Sekundarschüler*innen erlangten am Ende der Konferenz ein tieferes Verständnis und haben Mitschüler*innen konkrete Stärken zugesprochen. Einzelne haben regelrecht eine warme Dusche erlebt und fühlen sich deshalb motiviert. Die Lehrperson bedenkt, wie sie die erstellten Steckbriefe in geeigneter Weise zugänglich macht, damit die Schüler*innen ihr individuelles Stärkeninventar weiter erarbeiten können.
Es kostet Überwindung über dieses abstrakte «Erwachsenen-Thema» zu sprechen, v.a. im Beisein aller Mitschüler*innen. Die Kleingruppen werden daher gezielt aufgrund der Auswertungen aus dem Fragebogen gebildet. Es werden nur die Stärken behandelt, welche die Teilnehmenden mit persönlichen Beispielen (gemäss Fragebogen) diskutieren können. Die Rede über eigene Stärken ist bewusst kein Element der Konferenz, da der Fokus auf dem Fremdbild liegt.
Die Rolle des Tischmoderators öffnet den anderen Teilnehmenden die Möglichkeit, frei zu denken und zu sprechen, ohne etwas «produzieren» zu müssen.
Titelbild: KI-generiertes Bild mittels Dall-E